Fabel von den "Katztoren"
Es war ein sonniger Apriltag, als der kleine Mann wie so haeufig den
gruenen Pfad in der Naehe der Bahngleise entlang flanierte. Die Strecke
war bisher ruhig und beschaulich gewesen, doch nach der ersten Biegung
des Weges eroeffnete sich ihm ein ueberraschender, chaotischer Anblick:
Eine unueberschaubare Masse von Maeusen hatte den nahegelegenen Bahnhof
belagert. Dabei steckte ein Viertel davon in Durchschnitts-Maeuse-Hosen,
-Maenteln und -Schuhen; die uebrigen dreiviertel aber trugen gruene
Maeusepolizei-Uniformen. Der kleine Mann beschleunigte seinen Schritt, um
eine der zivil gekleideten Maeuse nach der Ursache des Maeuseauflaufs zu
fragen, und schon bald hatte er einen auskunftsfreudigen Nager gefunden.
Dieser hatte gerade eine Diskussion mit einer uniformierten Maus
abgebrochen, in der es um die Frage ging, ob die demonstrierenden Maeuse
Schuld an den Ueberstunden des Maeusepolizisten waren. Als nun der kleine
Mann ihn um Informationen zu der Versammlung bat, wandte sich die Maus
verbluefft zu ihm hin, blickte ihn mit erstaunten Augen an und
antwortete: "Das wissen Sie nicht? In wenigen Minuten rollen hier doch
die Katztoren ein."
Der kleine Mann war etwas beschaemt, weil er ueber ein scheinbar wichtiges
Ereignis nicht Bescheid wusste. Dennoch aber wagte er nachzuhaken: "Die
Katztoren?! Was ist denn das?!" Etwas mitleidig ueber den in seinen Augen
hinter dem Mond lebenden kleinen Mann zog die Maus zunaechst eine
Augenbraue hoch, erwiderte jedoch schliesslich: "Die Katztoren sind eine
extrem gefaehrliche Ueberzuechtung der normalen Hauskatze. Moppelheimer
entdeckte vor vielen Jahren, dass man aeusserst leistungsfaehige, fast
unsterbliche Katzen zuechten kann, wenn die Zellkernteilung durch
kuenstliche Spaltung beschleunigt wird." - "Aber wofuer benoetigt man denn
diese Katztoren?", fragte der kleine Mann erstaunt, "wo sie doch so
gefaehrlich sind!" - "Tja", sagte der Maeuserich bitter, "fuer Arbeiten,
die auch auf andere, wesentlich risikoaermere Weise erledigt werden
koennten." - "Aber warum wechselt man denn nicht zu diesen sicheren
Methoden?", erkundigte sich der kleine Mann. - "Aufgrund von
wirtschaftlichen Interessen", sprach der Maeuserich, grimmig zwischen den
Zaehnen zischend. "Jahrelang hat Mausland in die Katztoren investiert;
Gelder fuer Forschungen und Projekte flossen, und die Ertraege, die durch
die Katztoren erwirtschaftet wurden, waren lukrativ. Nun moechten sich
die Wirtschaftsmaechtigen von diesen geldbringenden Geschaeften nicht
lossagen. Trotz der latenten, enormen Bedrohung durch die Katztoren. Die
Katztoren-Befuerworter versuchen, die Politiker mit Statistiken zu
beruhigen sowie mit Argumenten ueber beaengstigend steigende
Arbeitslosigkeit etc. unter Druck zu setzen. Und die Maeusepolitiker
lenken ein. Obwohl sich die jetzige Maeuseregierung die Abschaffung der
Katztoren-Zuechtung auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie muessen wissen,
dass die Katztoren, die in Kuerze hier eintreffen werden, keine
Neuzuechtungen sind, sondern alte Katztoren, die man mit einem immensen
Aufwand wieder erstarken liess."
Am Horizont sah man jetzt die Silhouette einer Eisenbahn, und ein leises
Grollen war zu vernehmen. Langsam kam Unruhe in die eben noch
verhaeltnismaessig unbewegte Menge. "Sehen Sie", sagte der Maeuserich, "da
ruecken sie naeher, die Katztoren." Seine Augen verengten sich zu
Schlitzen, als er auf den Zug blickte. - "Mmh", machte der kleine Mann
und wippte - nun auch von Nervositaet gepackt - ueber seinen Fusssohlen auf
und ab. "Aber Sie haben mir noch gar nicht gesagt, was die
Gefaehrlichkeit der Katztoren ausmacht", bemerkte der kleine Mann. -
"Einigermassen ungefaehrlich sind die Katztoren, solange sie sich in den
eigens fuer sie geschaffenen Hochsicherheitsgebaeuden befinden. Diese
Gebaeude sind mehrmals ummantelt, und muessen Tag und Nacht ueberwacht
werden. Die Katztoren-Befuerworter beteuern die Sicherheit dieser Bauten.
Doch immer wieder gelingt es einzelnen Katztoren zu entweichen.
Maeusisches Versagen nennt man das dann. Aber dies ist ein
Risikofaktor, der nie auszuschalten sein wird. Die Katastrophe tritt
ein, wenn mehrere der Katztoren ausserhalb des Gebaeudes gelangen. Im
Umkreis von mehreren 100 Kilometern vernichten sie ueber einen Zeitraum
von vielen Jahrhunderten jegliches Leben: Baeume, Maeuse und natuerlich
auch Menschen."
Bei diesen Worten zuckte der kleine Mann zusammen. Also waren die
Katztoren auch fuer ihn eine Bedrohung? Mittlerweile hatte sich der Zug
bereits bis auf wenige Meter den Wartenden genaehert. Einige Maeuse
hefteten schweigend ihren Blick auf die schwarze, heranrollende
Maschine; andere wiederum stritten lautstark mit den Polizeimaeusen.
"Aber sagen Sie", stiess der kleine Mann aus, "wenn man die Katztoren fuer
gewoehnlich in Hochsicherheitstrakten ueberwacht, ist es dann nicht sehr
gefaehrlich, sie auf Schienen durch die Lande zu kutschieren?? -
"Natuerlich", antwortete die Maus und nickte heftig. "Vor ueber zwei
Jahren wurden deshalb die Transporte eingestellt, weil immer wieder
Katztoren entwichen." Eine kurze Pause entstand. "Aber nun begeben Sie
sich besser in Sicherheit." Und mit diesen Worten bugsierte die Maus
denn kleinen Mann vorsichtig aus der Menge.
Im selben Augenblick erreichte der Zug bedrohlich schnaufend wie ein
Stier die Maeuseversammlung. Die draengende Masse versperrte dem kleinen
Mann fast die komplette Sicht auf den wuchtigen, staehlernen Koloss. Nur
einen winzigen Lidschlag lang vermeinte er einen unheimlichen Blick
erhascht zu haben: auf eine gigantische, hart blitzende Kralle und ein
Paar riesige, rot gluehende Augen.